Es surrt, und der Geruch von Desinfektionsmittel beißt in der Nase. Sabine Jacobs hat die weißen Latexhandschuhe übergestreift, die Tätowiermaschine hält sie in der rechten Hand. Ihr nächstes „Opfer“ ist ein 50-jähriger Mann. Sein Name ist René.
Text: Von Annick Meys
Fotos: Mandy Hermanns
Sabine Jacobs hat mehr Tattoos, als sie zählen kann. Auch Hals, Hände und Gesicht sind bunt. Mit 14 Jahren hat sie sich ihr erstes Tattoo auf den Oberarm stechen lassen, ein kleines Einhorn.
Heute ist die Haut nur noch an wenigen Stellen jungfräulich. Ständig kommen neue Motive hinzu. „Ich bin noch lange nicht fertig“, erzählt sie. Die 36-Jährige bereut keine ihrer Tätowierungen, auch die Jugendsünden gehören zu ihr. „Entweder lässt man überdecken, was einem nicht mehr gefällt, oder man lebt einfach damit. Wer
so viele Tattoos hat, sieht das irgendwann nicht mehr
so eng“, meint sie.
Gerade beugt sich Sabine (in der Szene duzt man sich) über den Unterarm von René. Die beiden kennen sich schon lange. Mit ruhiger Hand überträgt sie durch Blaupausen die Tattoo-Vorlage wie ein Abziehbild auf seine Haut. Es ist das Porträt einer französischen Bulldogge, darunter eine Rose. „Es kann losgehen.“ Die Maschine in Sabines Hand sieht aus wie ein Zahnarztbohrer – und sie hört sich auch so an. Neben ihrem Talent ist sie ihr wichtigstes Werkzeug. Mit vielen Tausend Stichen pro Minute bringen eine oder mehrere Nadeln die Farbe unter die Haut. Sabine muss darauf achten, dass sie weder zu tief noch zu oberflächlich sticht. Optimal ist es, wenn die Farbe in die mittlere Hautschicht gebracht wird.
Die 36-Jährige aus Weywertz ist gelernte Siebdruckerin. Nach der Ausbildung entschied sie sich anders. Ihre Leidenschaft galt der Tätowierkunst. Auf der Suche nach einem Lehrmeister klapperte sie damals etliche Studios ab. „Erst wollte mich keiner“, erinnert sie sich. Dann hatte sie Glück. In einem Studio in Lüttich durfte sie Vorlagen ausmalen und aushilfsweise kleinere Zeichnungen anfertigen. Eine ganze Zeit lang ging das so, dann durfte sie ihr erstes Tattoo stechen. Der Kunde war ein Mann, das Motiv ein kleiner Garfield. Sie erinnert sich noch genau an den Moment: „Ich hatte richtig Schiss. Das Resultat war aber ganz passabel.“ Ein Jahr blieb sie, dann sammelte sie Erfahrungen in anderen Studios, tätowierte Freunde und sich selbst. „Ich habe anfangs schon ein paar Katastrophen gestochen. Ich darf gar nicht dran denken.“ Einmal hat sie ein chinesisches Zeichen falsch herum tätowiert. Der Kunde hat es ihr nicht übel genommen. „Das passiert einem einmal und danach nie wieder“, lacht sie und schüttelt mit dem Kopf.
Mittlerweile hat Sabine Hunderte von Tattoos gestochen – ein solcher Fauxpas könnte sie heute ihren guten Ruf kosten. Vor fast genau zehn Jahren hat sie gegenüber dem Eupener Bahnhof ihr eigenes Tattoostudio eröffnet. Aus Angst, bei den Nachbarn einen schlechten Eindruck zu hinterlassen, habe sie damals fast täglich den Bürgersteig vor dem Laden gefegt, und die Fenster übergründlich geputzt. „Total bescheuert“, findet sie heute.
Wer einen Termin bei „Talisman Tattoo“ möchte, muss sich gedulden. „Jeder möchte im Moment ein Tattoo. Ich bin bis Ende des Jahres ausgebucht“, erzählt sie. Mittlerweile läuft das Geschäft sogar so gut, dass sie es sich erlauben könnte, ihre Kunden selber auszusuchen. „Ich kann machen, worauf ich Bock habe.“ Zwar arbeitet sie auch nach Vorlagen, am liebsten mag sie es aber, wenn Kunden mit einer Idee zu ihr kommen und sie eine Zeichnung nach eigenen Vorstellungen anfertigt. Aktuell seien Eulen in allen möglichen Variationen bei den Kunden besonders beliebt. Rechtsradikale Motive lehnt sie strikt ab.
Zwei bis drei Sitzungen tätowiert die junge Frau am Tag. Wenn sie abends den Laden schließt, ist für sie aber noch lange nicht Feierabend. Zu Hause bereitet sie Zeichnungen für die darauffolgenden Tage vor. „Es ist wirklich ein 24-Stunden-Job. Alles in meinem Leben dreht sich ums Tätowieren.“ Ständig und überall wird sie auf ihre bunte Haut angesprochen. Neugierige, aber auch abwertende Blicke ist die 36-Jährige gewohnt. „Die einen finden es cool, die anderen fragen mich, wie ich mich nur
so verunstalten konnte. Ich finde, tätowierte Menschen sind die schönsten, oder?“
Die Frage verhallt im Raum, das Surren der Maschine übertönt das Gespräch. Gerade zieht Sabine die Außenlinien, danach schattiert sie, und zuletzt malt sie alles aus. Mittlerweile ist die Haut an Renés Unterarm stark gerötet. Trotzdem verzieht er keine Miene, wenn die Tätowiererin mit der Nadel mehrere Male über die Haut fährt. Mit einem feuchten Papiertaschentuch wischt sie Farbe und Blut von seinem Arm. „Es brennt ein bisschen“, gibt der 50-Jährige zu. „Tätowierungen sind eben schmerzhaft, das gehört dazu“, kommentiert Sabine unbeeindruckt. „
So, Pause!“ Dann zieht sie ihre Einweghandschuhe aus. Zeit für einen Kaffee und für René eine Zigarette.
Im November beginnt für die junge Tätowiererin ein neuer Lebensabschnitt: Zehn Jahre nach Eröffnung schließt sie ihren Laden, um in dem Aachener Studio „The Sinner and the Saint“ neu durchzustarten. „Ich möchte wieder ein bisschen freier sein, unterwegs sein, mich von anderen Tätowierern inspirieren lassen. Das wird meiner Kreativität gut tun“, meint sie.
Renés Tattoo-Hund ist mittlerweile fertig. Knapp drei Stunden hat die Prozedur gedauert. Sabine deckt das frisch gestochene Werk mit Frischhaltefolie ab. „Damit nichts in die Wunde kommt“, erklärt sie. Etwa zwei Wochen wird es dauern, bis das bunte Motiv geheilt ist. Dass René mit dem Resultat mehr als zufrieden sein würde, war ihm schon vorher klar. Sabine reinigt ihren Arbeitsplatz, dann macht sie das Licht aus. René war
heute ihr letzter Kunde. Und ein weiterer, der nun ein wenig bunter ist.